Kuglers Kritik, die sich auf das konkrete Problem der Ära Nabonassar konzentrierte, wirkte ernüchternd auf einige der führenden Köpfe der panbabylonistischen Schule. Hugo Winckler (1863-1913) und Alfred Jeremias (1864-1935) zogen sich aus der emotionsgeladenen Debatte über den Wert biblischer Zeugnisse zurück. 1907 begannen sie mit der Herausgabe einer Reihe von Monographien zur Widerlegung Kuglers. Diese Serie hatte den Titel Im Kampfe um den Alten Orient, Wehr- und Streitschriften; aber trotz der bombastischen Überschrift konzentrierten sich diese Monographien auf das Gebiet, auf dem die Autoren beschlagen waren, auf die Keilschriftphilologie. Allgemeine Fragen vergleichender Mythologie wurden nur angeschnitten, sofern dies für die Interpretation der Texte notwendig war.
In ihren Gegendarstellungen versuchten Winckler und Jeremias, die Richtigkeit ihrer Ansichten zu begründen, indem sie ein ganz konkretes Beispiel in den Mittelpunkt rückten: »die Art, in der die Venus in der Mythologie auftritt«. Sie stellten dazu fest, alle Mythologien, die sie untersucht hätten, wiesen durchgehend drei charakteristische Merkmale auf: (1) Es herrscht ein ungeheures Interesse an der Venus, die als Himmelskönigin beschrieben wird; (2) die Planeten sind vier an der Zahl, die Venus wird mit Sonne und Mond in eine Gruppe gerechnet; (3) die Phasen der Venus werden erwähnt. Ihres Erachtens muß das letztgenannte Merkmal den Ausschlag gegeben haben: Die Venus wird mit der Sonne und dem Mond in eine Gruppe gezählt, weil sie wie der Mond Phasen hat. Eben wegen dieser Phasen erregte sie besondere Aufmerksamkeit. Nur fortgeschrittene Astronomen konnten die Phasen der Venus beobachten. Daher könne man den Schluß ziehen, die Astronomie in Mesopotamien habe schon so früh ein so hohes Niveau erreicht, daß sie auf die Mythologien ferner Länder haben einwirken können.
Die Phasen der Venus wurden zum Ängelpunkt der panbabylonistischen Theorie. Winckler stellte fest, es überrasche einen in keiner Weise, daß die mesopotamischen Astronomen sie kannten, denn zweifellos hätten die Astronomen 4 Jupitermonde gesehen, »die weit schwieriger zu beobachten sind als die Phasen der Venus«.
An dieser Stelle glaubte Kugler, er könne seine Gegner entscheidend schlagen. Im März 1906 veröffentlichte er in Anthropos, einer internationalen Zeitschrift für anthropologische und ethnographische Forschung, einen Aufsatz mit der Überschrift »Auf den Trümmern des Panbabylonismus«. Im folgenden Jahr erweiterte er ihn zu einem Buch [14]. Sein Hauptargument war, die Annahme, die Phasen der Venus seien bekannt gewesen, sei offenkundiger Blödsinn. Auf Seite 58 des Buchs steht die sarkastische Bemerkung: »Die Phasen der Venus! Ist diese Entdeckung echt, dann, o Galileo Galilei, verblaßt Euer Ruhm.« Nach Kugler hätten die Panbabylonisten nichts weiter veröffentlichen dürfen, ehe sie nicht bereit waren, eine Spezialabhandlung über die Physiologie babylonischer Augen vorzulegen.
In Wahrheit bewegte sich Kugler auf arg unsicherem Boden, denn als Galilei 1611 verkündete, er habe die Phasen der Venus entdeckt, bemerkten einige seiner Zeitgenossen sofort, wahrscheinlich hätten schon die alten Griechen davon gewußt. (Ich habe schon erwähnt, was Sir Walter Raleigh 1616 geschrieben hat.) Die Zeitgenossen Galileis, die sich in der klassischen Literatur auskannten, stellten sich die Frage, ob in der griechischen Mythologie Hinweise auf die vier Jupitermonde vorkämen, die Galilei 1610 durch ein Fernrohr mit dreißigfacher Vergrößerung sah. Daher erhielten die vier Monde die Namen von vier mythologischen Figuren, die mit Zeus eng verbunden sind: Io, Europa, Ganymed und Kallisto.
Übrigens war den Zeitgenossen Galileis auch nicht bewußt, daß in der babylonischen Mythologie der Gott Marduk vier Hunde bei sich hat. Sie wußten nicht, daß in der Kunst des Vorderen Orients der Planet Jupiter mit Satelliten dargestellt wird. Kugler bestritt keineswegs, daß den Babyloniern die Jupitermonde bekannt waren, aber er maß dem keine Bedeutung bei (Seite 61): »Nur das ist richtig: In den seltensten Fällen und nur unter den günstigsten Voraussetzungen hätte man die Jupitermonde beobachten können - auf jeden Fall sind sie nur für ein paar Minuten sichtbar gewesen.« Man hätte sie nicht so gut sehen können, daß man ihr Erscheinen in astronomische Tafeln hätte eintragen dürfen, und nur ein solcher Eintrag könne als Beweis für wissenschaftliche Astronomie gelten.
Was das Zentralproblem der Sonderstellung der Venus betrifft, so gab Kugler gerne zu, daß dieser Planet mit Sonne und Mond eine Dreiheit bilde. Er legte sogar bildliche Darstellungen von babylonischen Denkmälern vor, auf denen die Venus mit Sonne und Mond in einer Gruppe zu sehen sind. Aber all das kann nach Kugler leicht mit der Tatsache erklärt werden, daß die Venus zuweilen hell genug ist, daß ein Gegenstand einen Schatten wirft, wie dies auch bei Sonne und Mond der Fall ist, und sie ist oft so hell, daß man sie auch am Tag sieht. Tatsächlich konnten weder die Panbabylonisten noch auch Kugler begründen, warum in den Keilschrifttexten die Venus als »Diamant, der wie die Sonne strahlt « oder als »prächtige, wundersame Erscheinung mitten am Himmel« bezeichnet wird.
Schon der Titel des Buchs von Kugler aus dem Jahr 1910 macht deutlich, wie zuversichtlich er war, daß es ihm gelungen sei, seine Gegner durch seinen Spott aus dem Feld der Keilschriftkunde verjagt zu haben. Aber sie erhielten Verstärkung in der Person eines Neulings, Ernst Friedrich Weidner (geb. 1891). Er war nicht nur wie sie ein Fachmann der Keilschriftphilologie (über 50 Jahre lang galt er als eine Autorität auf diesem Gebiet), sondern er kannte sich auch in Astronomie und Mathematik sehr gut aus. Wie andere bekannte Panbabylonisten, unter anderen F. E. Peiser, hatten auch Jeremias und Winckler erklärt, sie seien Philologen, und ihre einzige Aufgabe sei es, die Texte zu entziffern. Sie hätten die Absicht, die Lösung der astronomischen Probleme den Fachleuten dieser Disziplin zu überlassen.
Die Argumente, die Weidner ins Feld führte, trafen Kugler so schwer, daß er völlig falsch reagierte. Er behauptete, die Texte, in denen erwähnt werde, man habe einen Stern nahe der »rechten« oder »linken« Sichel der Venus gesehen, bezögen sich auf die Mondsichel (zunehmend oder abnehmend), hinter der die Venus in diesem Augenblick verborgen gewesen sei. Kurz danach widerrief er auf einer Sonderseite diese Deutung wieder. Die Debatte zwischen Kugler und Weidner war so ausgeufert, daß sie ihre Publikationen nicht nur nach dem Jahr datierten, sondern sogar nach Monat und Tag.
Im März 1914 veröffentlichte Weidner unter dem Titel Alter und Bedeutung der babylonischen Astronomie und Astrallehre eine Monographie, die als Widerlegung von Kuglers Kernbehauptung, wie sie in seinem Vorwort steht, gedacht war. Weidner war so selbstsicher, daß er trotz seiner Jugend wenig später, im Jahr 1915, die erste Lieferung eines umfassenden Handbuchs der babylonischen Astronomie erscheinen ließ [15].
In der erwähnten Monographie sparte sich Weidner sein bestes Argument für den Schluß auf, wo er Kugler bei der Interpretation der Texte, in denen von der »Sichel« der Venus die Rede war, widerlegte. Der allerletzte Satz lautet: »In Zukunft wird keiner versuchen, an der Tatsache zu rütteln, daß die Babylonier die Phasen der Venus gekannt haben. « Aber dieser eindringlichen und positiven Aussage folgt unten auf der Seite eine abschwächende Fußnote: »Man kann noch erwähnen, daß bekannte Mitarbeiter an Observatorien mir versichert haben, es sei durchaus möglich, am klaren Osthimmel mit bloßem Auge die Phasen der Venus zu sehen.«
Der Streit zwischen Kugler und den
Panbabylonisten hatte zu keiner Entscheidung geführt. Kugler konnte nicht
bestreiten, daß man die Phasen der Venus und die Jupitermonde tatsächlich
gesehen hatte; aber seine Gegner konnten auch keine Erklärung dafür geben, wie
es dazu gekommen war. Es war zwecklos, sogenannte Gutachten zu zitieren, solange
sie nicht mit lebenden Personen aufwarten konnten, die mit unbewaffneten Augen
solche Dinge am Himmel selber gesehen hatten. Beide Seiten hatten erklärt, sie
hegten keinen persönlichen Groll, aber tatsächlich war ihr Schlagabtausch in
sinnlose Vorwürfe ausgeartet. Jahre später hat Kugler sein Bedauern über die
Heftigkeit seiner Attacken auf die Panbabylonisten zum Ausdruck gebracht. Kugler
und seine Gegner benutzten die Zwangspause, die durch den I. Weltkrieg
entstanden war, dazu, die Sache endgültig fallenzulassen. Obwohl das Schweigen
darüber, was während dieser Kontroverse alles gesagt wurde, dem akademischen
Ansehen dienlich war, so hat es unser Wissen doch nicht erweitert.