Kugler war zunächst dem Pänbabylonismus gegenüber aufgeschlossen. Später jedoch lehnte er ihn ab, denn er gewann die Überzeugung, vor der Ära Nabonassar könnte es in Mesopotamien keine ernsthafte Astronomie gegeben haben.
Spätmesopotamische und hellenistische Astronomen rechnen die Jahre nach einem System, »Ära Nabonassar« geheißen, die am 26. Februar 747 v. Chr. beginnt. Diese Zeit erhält ihren Namen durch den Umstand, daß während der ersten Jahrhunderte die Jahre nach einer Liste der Regierungsjahre babylonischer Könige errechnet wurden, und Nabonassar führt diese Liste an. Zur Zeit des Nabonassar stand Babylon unter Fremdherrschaft, und sein König herrschte nur nominell; jedenfalls, so bemerkt Kugler, ereignete sich während seiner Regierungsjahre nichts Nennenswertes. Trotzdem begann man ab der Herrschaft Nabonassars eine jährliche Chronik der wichtigen politischen Ereignisse, die sogenannte Babylonische Chronik. Ptolemäus bestimmte die Jahreszahlen nach der Ära Nabonassar, und sie wurde von den Astronomen weiter benutzt, bis sich in der Renaissance die Julianische Zeitrechnung als für die Wissenschaft verbindlich einbürgerte.
Gewöhnlich erklärt man die Einführung der Zeitrechnung nach Nabonassar (und in Fachwerken wird dies noch heute wiederholt) damit, daß damals in Mesopotamien ein neuer lunisolarer, d. h. von Mond und Sonne ausgehender, Kalender eingeführt worden war, der nach und nach auch in die umliegenden Länder - einschließlich Griechenland Eingang fand. Aber Kugler erkannte, die Einführung dieses neuen Kalenders sei nicht die Ursache für die Annahme der neuen Zeitrechnung gewesen, vielmehr hätten das andere Faktoren bewirkt.
Auf den allerersten Seiten der Einleitung zu seiner Sternkunde sagt Kugler, erst mit dem Beginn der Ära Nabonassar hätten babylonische und assyrische Astronomen es für notwendig erachtet, »die stellaren Bewegungen durch Maß und Zahl räumlich und zeitlich zu bestimmen und aufzuzeichnen.« Vor dieser Zeit seien die Astronomen Mesopotamiens nur Sterngucker gewesen und dazu noch »außerordentlich phantasiereich«. Diese Behauptung klingt reichlich merkwürdig, aber seine ganze Sternkunde dient einzig dazu, sie durch Tatsachen und Zahlen zu belegen. In einer der Ergänzungen steht ein Kapitel mit der frohlockenden Überschrift »Positive Gründe für das Fehlen wissenschaftlicher Astronomie vor dem VIII. Jahrhundert v. Chr«.
Es gibt im Grunde Beweise zweierlei Art. Erstens, nach dem Beginn der Ära Nabonassar arbeiteten die Astronomen Mesopotaimiens fleißig daran, grundlegende astronomische Zahlen zu bestimmen, ohne die ein Studium der Astronomie auf rationaler Grundlage nicht möglich ist. Als Beispiel sei die Bestimmung der Frühjahrs-Tag-und-Nachtgleiche genannt. Zweitens stellten die Astronomen dieser Gruppe komplizierte Berechnungen an, die von grundlegenden Zahlen ausgehen, die man aus groben Schätzungen gewonnen hatte. So habe beispielsweise den Berechnungen der Opposition und Konjunktion von Sonne und Mond, aus denen der Beginn eines neuen Mondes hervorging, ein Wert des längsten Tages zugrunde gelegen, der um mehr als zehn Minuten zu hoch war. Einige dieser Daten wären mit einem Minimum sorgfältiger Beobachtung zu erreichen gewesen, und Kugler schloß daraus, diese Astronomen hätten gerne mit den Zahlen gespielt und sich mit Kalkulationen vergnügt, die recht wenig mit der Wirklichkeit zu tun gehabt hätten. Doch mußte er zugeben, daß man dann und wann auf Werte von ganz erstaunlicher Genauigkeit stößt.
Nach Kugler gibt es zwei konkrete Beweise dafür, daß man in der Ära Nabonassar anfing, die Astronomie auf genaue Berechnungen zu gründen. Der erste: Weil die Liste der Sonnenfinsternisse, die den hellenistischen Wissenschaftlern zur Verfügung stand, erst mit dem Jahr 721 v. Chr. einsetzt, kann man schließen, daß die mesopotamischen Astronomen vor diesem Datum die Sonnenfinsternisse nicht registriert haben; jede ernsthafte Beschäftigung mit der Erforschung des Himmels würde darin ihren Ausgangspunkt haben. Kugler wußte allerdings nicht - Velikovsky hat uns darauf aufmerksam gemacht -, daß die chinesische Liste der Sonnenfinsternisse mit dem gleichen Zeitpunkt beginnt. Der zweite: Vor der Zeit Nabonassars scheint der mesopotamische Kalender Jahre und Monate unterschiedlicher Länge gehabt zu haben; es ist offensichtlich, daß die Einführung eines zuverlässigen Kalenders die Voraussetzung selbst elementarer Astronomie ist.
Kuglers Bewertung der astronomischen Methoden vor Nabonassar ist nicht konsequent: Manches Mal behauptet er, sie hätten die Zahlen ganz vergessen, dann wieder, sie seien gelegentlich sorglos mit ihnen umgegangen. Auf Seite 25 des zweiten Bandes der Sternkunde schränkte er die Feststellung, die er am Anfang von Band I gemacht hatte, wieder ein und erklärte, das Sammeln von Beobachtungsdaten »wurde wenigstens nicht systematisch gehandhabt«.
Kugler versuchte zu zeigen, warum zur Zeit Nabonassars ein so auffallender Wandel im Umgang mit astronomischen Dokumenten eingetreten ist. Anfänglich vermutete er, Nabonassar habe sie vielleicht angeregt; später erkannte er, daß Nabonassar nur den Namen für die neue Datierung abgegeben hatte. Er zog den Schluß, die Beobachter müßten durch irgendein bedeutsames astronomisches Ereignis beeinflußt worden sein. Kugler konnte nichts Wichtigeres herausfinden, als daß zu jener Zeit Jupiter, Venus und Mars in Konjunktion standen. Am 12. Dezember 747 v. Chr. waren Venus und Jupiter in einer Distanz von 1'3o", und am 26. Februar waren Mars und Jupiter in einer Distanz von 23". In Wirklichkeit aber sind diese Konjunktionen keine Erklärung für eine Reform der gesamten Astronomie. Wenn sie überhaupt etwas beweisen, dann erhärten sie Velikovskys Hypothese ein wenig, daß nämlich die Venus, die ursprünglich aus dem Jupiter herausgeschleudert worden war, am 26. Februar 747 v. Chr. die Umlaufbahn des Mars zerstörte. Nach der Astrophysik sollten, wenn es beinahe zum Zusammenstoß kam, die heutigen Umlaufbahnen, zurückprojiziert zum angenommenen Zeitpunkt des Beinahezusammenstoßes, auf eine Nähe hindeuten.
Kugler hatte seine Zweifel an der Bedeutung der Ära Nabonassar, aber sie wurden ausgeräumt durch die Aussage des byzantinischen Chronologen Syncellus: »Von der Ära Nabonassar an stellten die Chaldäer die Zeiten der Bewegung der Himmelskörper genau fest.« Was Kugler außer acht ließ war, daß Syncellus sich auf die griechischen Chronologen bezog, die ich im ersten Abschnitt meines Aufsatzes erwähnt habe. Diese Chronologen machen deutlich, daß alles, was es an Veränderungen in den Meßmethoden gab, nicht nur auf Mesopotamien beschränkt blieb.
In meiner Dissertation untersuchte ich die Rolle des Königs Pheidon von Argos in der griechischen Chronologie [7]. Die griechischen Chronologen teilen ihr Datierungssystem, das mit der Deukalischen Flut beginnt, in eine erste Periode, die sie mythikon (Zeit der Mythen) nennen, und in eine zweite, historikon genannt. Die Trennungslinie ist das Datum von Pheidon von Argos, das ursprünglich auf das Jahr 748/7 v. Chr. angesetzt war [8]. Andere Daten aus der Frühgeschichte Griechenlands, wie etwa das angenommene Datum der ersten Olympischen Spiele (776 v. Chr.), wurden von Pheidon ausgehend berechnet, der laut Herodot (VI, 127) »die Kampfrichter vertrieb und die Spiele selber leitete«. Nach griechischer Überlieferung hätte Pheidon von Argos Längen- und Hohlmaße und Gewichte erfunden; aber die Überlieferung verwirrte die Griechen, die davon berichteten. Sie sagen, Maße hätten schon früher existiert.
Zur Zufriedenstellung meiner akademisch gebildeten Leser habe ich nachgewiesen,
daß Pheidon eine imaginäre Persönlichkeit ist; sein Name leitet sich von
pheidomai, »an etwas sparen«, her. Die ältesten Texte sprechen nicht von Pheidon,
was im Griechischen ein Spitzname ist für einen, der knapp mißt und voll rechnet,
pheidonia metra, knappes Maß. Weitere Forschungen meinerseits haben ergeben,
daß sich die Grundeinheiten von Länge, Inhalt und Gewicht seit der mykenischen Zeit nicht geändert haben,
und deshalb konnten nur die Einheiten für die Zeit geändert worden sein.
Griechische Geschichtsschreiber melden, daß die Listen der Priesterinnen des Heratempels bei Argos die ersten Grundlagen für die Aufzeichnungen der Ereignisse des Jahres waren. Ausgrabungen beweisen, daß dieser Tempel sehr wohl aus dem 8. Jahrhundert stammen kann. Eines kann als gesichert gelten, nämlich daß die griechischen Chronologen um die Mitte des 8. Jahrhunderts v. Chr. in ihrer Zeitrechnung einen Einschnitt machen, unabhängig von dem, was in Mesopotamien geschehen sein mag. Dieser Einschnitt hatte etwas mit dem Maßsystem zu tun.
Vermutlich hatte es auch in Rom solche unabhängigen Entwicklungen gegeben. Die Gründung Roms wird von Fabius Pictor, dem ersten römischen Chronisten, auf 748 v. Chr. festgelegt. Die Gründung wurde einer imaginären Persönlichkeit namens Romulus zugeschrieben, nach dem Namen der Stadt. Ihm folgte Numa, der ebenfalls der Sage angehört. Dieser Name ist abgeleitet von der italischen Modifikation des griechischen Wortes nomos, Gesetz, Richtschnur. Man sagt uns, Numa sei der zweite Gründer Roms gewesen, sein Geburtstag der 21. April, angeblich der Tag, an dem Romulus Rom gegründet habe. Numa sei der erste gewesen, der einen »exakten« Kalender eingeführt habe. [9] Er habe einen lunisolaren Kalender nach der richtigen Länge des Sonnenjahres und des Mondmonats errechnet. Vor ihm hätten die Römer falsche Zahlen über die Länge des Jahres und des Monats benutzt. Schließlich ist noch zu bedenken, daß bis ins 2. Jahrhundert v. Chr. hinein das römische Jahr am 1. März begann, deshalb sagen wir September, Oktober, November und Dezember. Als Beginn der Ära Nabonassar war der 26. Februar 747 v. Chr. errechnet worden. Kugler sagt, dieser Tag habe keine besondere Bedeutung im babylonischen Kalender gehabt und auch keine für den Ablauf der Jahreszeiten.
Wahrscheinlich wußte Kugler nicht, daß auch Newton aufgrund der ihm zugänglichen griechischen und lateinischen Autoren die Ansicht vertrat, erst mit der Ära Nabonassar habe die Astronomie auf wissenschaftlicher Grundlage begonnen. Newton verfolgte den Zweck, jene mundtot zu machen, die anzweifelten, daß das Sonnensystem seit seiner Erschaffung stabil geblieben sei. Nicolas Feret (1688-1749), der erste ständige Sekretär der Academie des Inscriptions, ein Gelehrter, der einige Ansichten der Panbabylonisten schon vorwegnahm, widersprach der Behauptung Newtons, die Astronomie habe sich erst spät entwickelt. Freret, der mit Recht als l'un des savants les plus illustres gue la France ait produit [10] gilt, sah die ungeheuren Fortschritte voraus, die im Bereich der alten Geschichte möglich waren, wenn man Sprachwissenschaft, Mythologie, Chronologie, Geographie, Astronomie und die allgemeine Geschichte der Naturwissenschaften zusammennahm und dazu noch die Kenntnisse über die Kulturen von Mesopotamien, Persien, Indien und China einbezöge, die in dieser Zeit zugänglich wurden. Diese Ideen legte Freret in einer Reihe bedeutender Aufsätze nieder, die in den Schriften der Academie erschienen. Er erkannte, dieses Material könne zu Schlüssen führen, die nicht nur umwälzend, sondern auch noch obendrein zuverlässig wären. Das ist zusammengefaßt in seinem Aufsatz Reflexions sur l'etude des anciennes histoires et sur le degre de certitude de leurs preuves. Er sah, daß die Daten der alten Geschichte der Theorie Newtons widersprachen. Er attackierte Newtons Meinung über Mythologie und antike Naturwissenschaften, mit denen dieser versuchte, die Beweise für Veränderungen im Sonnensystem vor der Ära Nabonassar zu entkräften. Viele Wissenschaftler seiner Zeit verfaßten Schriften für und gegen seine Defense de la Chronologie fondee sur les monuments, contre le systeme chronologique de Newton (Paris 1758). Jedoch das durchschlagendste Argument gegen Newtons Behauptung, das Material über astronomische Ereignisse aus der Antike sei unzuverlässig, steht in Frerets Essay über antike Geodäsie, in dem er nicht nur nachwies, die Länge des Erdumfangs sei schon sehr früh gut bekannt gewesen, sondern auch, die Ägypter hätten die Abmessungen ihres Landes fast bis auf die Elle genau gekannt [11]. 1816 gab Jean-Antoine Letronne (1787-1848) in einem von der Academie des Inscriptions preisgekrönten Werk einen Überblick über das ganze bis dahin zusammengekommene Material; er kam zu dem Ergebnis, unter Berücksichtigung der präzisen Vermessungsmethoden der Ägypter werde Freret »bestätigt oder klinge zumindest nicht mehr übertrieben [12]«.
1972 veröffentlichte ich Zahlen, die die Ägypter zur Berechnung der Länge ihres Landes zu Beginn der dynastischen Periode benutzt haben, und ich habe nachgewiesen, daß sie für die Errechnung der Erdoberfläche eine Abplattung an den Polen von 1/297,75 zugrunde gelegt haben [13]. Gegenwärtig habe ich die mesopotamischen Zahlen für die Fläche der Erde zur Veröffentlichung parat, die auf eine Abplattung an den Polen von 1/298,666 beruhen. Es gibt Veröffentlichungen über die Diskrepanz zwischen den beiden Zahlen. In unserer Zeit, bevor Satelliten in den Weltraum geschossen wurden, glaubte man, die Abplattung sei 1/297,1. Mit Hilfe von Satelliten hat man festgestellt, daß die Abplattung der Erde 1/298,25 beträgt. Aufgrund dieser Zahl und eines Äquatorialradius von 6 378 140 m hat man ausgerechnet, um wieviel jedes Gebiet der Erde über oder unter dem Niveau eines geometrisch vollkommenen Sphäroids liegt. Zufällig zählen Ägypten und Mesopotamien zu den wenigen Gebieten, in denen die tatsächliche Seehöhe mit dem Bezugssphäroiden übereinstimmt. Noch vor der Veröffentlichung der Zahlen unseres Raumfahrtzeitalters hatte ich rein empirisch erkannt, daß zu den antiken Entfernungsmessungen in Ägypten eine Abplattung von 1/298,3 am besten stimmt.
Kuglcr hatte mit seiner Behauptung recht, mit der Ära Nabonassar habe ein neues Zeitalter in der Aufzeichnung astronomischer Daten begonnen, aber die Abweichungen in den astronomischen Daten für die Zeit davor lassen sich nicht durch mangelndes Interesse an genauen Messungen erklären.