Noch einem dritten Rezeptionssystem müssen wir nachgehen. Es ist das Machtmodell. Allein seine Dynamik postuliert als einziges Ziel die Aufnahme von Wissenschaftlern in das Establishment und ihrer Werke in das Gesamtgebiet der Wissenschaften als Mittel zur Erhaltung und Erweiterung der Macht und des Prestiges der herrschenden Gruppe.
Bei diesem Modell ist die Wissenschaft hierarchisch angeordnet, und diese Hierarchie wirkt im Namen des rationalistischen Mythos durch das Machtprinzip. Sie macht sich die rationalistische Doktrin zu eigen, formuliert sie und wacht über sie wie über ein Dogma. Die Anwendung dieser Doktrin hängt von den Umständen ab. Als Gralshüter der Wissenschaft bestimmen die Hierarchen, was als ethisch gelten soll. Gemäß ihren eigenen Machtinteressen nehmen sie Personen und Material an oder lehnen sie ab und verhängen Sanktionen.
Das Machtmodell setzt eine oder mehrere Machteliten voraus. Es kalkuliert die Möglichkeit eines Sachstreits unter den Eliten ein und auch die Möglichkeit von Streitigkeiten, weil das Kontrollsystem nicht richtig funktioniert. Es schließt auch die Möglichkeit von Bündnissen mit Politik und Wirtschaft nicht aus, die man eingeht, um auf die internen Machtstrukturen der Wissenschaft einzuwirken.
Am Anfang stehen die Hierarchen des wissenschaftlichen Establishments. Wie in allen politischen Situationen läßt sich ihre Existenz durch Beobachtung ihrer Aktivitäten, durch die Auswirkungen ihrer Interventionen und durch richtige Voraussagen beweisen, entweder für den zur Erörterung stehenden Fall, oder auch durch die Übertragung von Beweisen auf andere, ähnlich gelagerte Situationen. Wenn Professor X, Leiter eines Instituts an einer berühmten Universität und Inhaber zahlreicher Ämter in öffentlichen und Fachinstitutionen, gegen Dr. V agitiert und seine Kollegen in dieser Richtung beeinflußt, wenn daraus für Dr. V und seine Freunde typische Sanktionen entstehen, wie beispielsweise unterbleibende Berufung, kein Aufstieg, keine Diskussion, keine Veröffentlichung und ein schlechter Ruf, wenn gewisse richtige Voraussagen über die negativen Reaktionen des Establishments auf geplante Aktionen Dr. Vs gemacht werden und wenn die hohe Stellung, die Verbindung und das Verhalten des Professors X in anderen Situationen dem Verhalten gegenüber V ähnlich sind: dann ist Professor X ein Vertreter der Hierarchie, und der Rahmen, in dem er tätig ist, ist als hierarchisch anzusehen. Die, mit denen er zusammenarbeitet, sind Mithierarchen, und diejenigen, an die er Aufgaben delegiert, sind damit untergeordnete Vertreter der Hierarchie. Das gesamte Establishment ist eine Machtstruktur in dem Umfang, in dem alle diese Verhaltensweisen typisch und exklusiv sind.
Eine von der Obrigkeit abgesegnete Lehrmeinung heißt Dogma. Es sind die Anschauungen darüber, wie etwas geschieht, und darüber, ob das richtig oder falsch ist. In der Wissenschaft ist das rationalistische Modell das wesentlichste Dogma. Ein etwas weniger wesentliches Dogma über die Autorität ist im Machtmodell enthalten, so daß es möglich ist, »Autorität« selbst dann noch zu behaupten, wenn diese Autorität sich dem »Beweis« des rationalistischen Modells beugen muß.
Wenn in einer Gesellschaft wie der Wissenschaft eine Doktrin herrscht, so müssen die Inhaber der Macht sie zur Kenntnis nehmen. Sie können nur innerhalb ihres Rahmens herrschen. Sie müssen sie überwachen. Es ist schwierig, nackte Macht zu erlangen und zu erhalten. Der Mensch lebt genausowenig von der Macht allein, wie er vom Brot allein lebt. Das gilt besonders für Herrschergruppen wie die in der Wissenschaft, denen die Möglichkeit physischer Gewaltanwendung nicht zu Gebote steht.
Das Wachen über Dogma oder Lehrmeinung beruht auf einer ursprünglichen Rechtmäßigkeit der Herrschaft und dann auf der Kontrolle über die Mittel. In der Wissenschaft verleihen die Berufung an führende Universitäten, Auserwählung zu Ehrungen und Ruhm durch vorher Erwählte (Ko-option) Legitimität innerhalb und außerhalb des Establishments.
Das Wachen über das Dogma versetzt die Hierarchen in die Lage, eine Kontroverse dadurch zu entscheiden, daß man sich selber die Einhaltung des Dogmas attestiert und die Gegenpartei der Sünde wider das Dogma zeiht, ihr also jegliche Legitimität abspricht. Wie schon vorher angedeutet, haben die Führer des Establishments ihre Aufgabe ernstgenommen: Gaposchkin, H. Brown, Lafleur, Stewart und andere formulierten den Kodex, bevor sie über Velikovsky und seine Werke das Urteil sprachen.
Gleichzeitig vergaßen sie aber nie zu sagen, wenn sie es auch an Beweisen fehlen ließen, Velikovsky habe in wesentlichen Punkten den Kodex der Wissenschaft verletzt. Man warf ihm vor, er schreibe für Geld [19]. Man warf ihm vor, er wolle die Leute irreführen. In vielen verschiedenen Formulierungen erklärte man ihn für unfähig, seine Themen überhaupt verständlich darzustellen.
Tatsächlich waren Velikovskys Verleumder auf dogmatischem Gebiet angreifbar. Aber man konnte sie nur in der Tagespresse angreifen. Newsweek und Harper's Magazine vor allem schrieben pro Velikovsky und bezichtigten die Hierarchen, sie hätten sich nicht an die Überzeugungen gehalten, die sie so sehr beteuerten.
Nackte Gewalt ist in der Wissenschaft etwas Unanständiges. Leute, die dem Establishment angehören, erkannten, wie angreifbar nackte Gewalt machen kann, und prompt verwahrten sie sich gegen den Vorwurf der Willkür, Unterdrückung und Zensur. Ein Grund dafür, warum ihre Kritiken und Briefe so wenig stilistisches und wissenschaftliches Niveau zeigten, war der, daß sie in drei Richtungen operierten; sie mußten oft betonen, sie wachten über das Dogma, sie mußten ihre Macht beweisen, und sie mußten so tun, als seien sie Vertreter des rationalistischen Modells. Und all das zur gleichen Zeit und am gleichen Ort.
Jede herrschende Gruppe muß eine institutionelle Grundlage haben. Am liebsten nimmt man dazu eine Universität her, die über ein hohes Prestige, Geldmittel, Forschungsstipendien, einen entsprechenden Lehrkörper und einen teuren, gemeinsam verwalteten Apparat verfügt. Die Führungsposition auf dem Gebiet der Astronomie an der Harvard University ist in dieser Hinsicht vergleichbar mit der Führerrolle in der Delegation des Staates New York beim Parteikonvent, der den Präsidentschaftskandidaten nominiert. In einer solchen Position kommt man leicht zu Ehren und auch zu gesellschaftlichem Rang. In der Ausgabe des Who's Who in America steht, Harlow Shapley, Professor für Astronomie und Direktor des Lowell-Observatoriums in Cambridge, sei Funktionär oder Mitglied in 41 Berufsverbänden. In diesem Fall, wie das bei Machtstellungen so zu sein pflegt, weitet sich sein Einflußbereich aus durch ehemalige Studenten, Neuberufungen und berufliche Anerkennung; sie greifen auch auf andere Verbindungen über, die seinen Einfluß noch verstärken - manchmal sind sie politisch-ideologisch, dann wieder familiär, finanziell usw.
Die Taktik der Macht dient gewöhnlich dazu, unerwünschte Meinungen zu unterdrücken und erwünschte hochzuspielen. Im wissenschaftlichen Rezeptionssystem umfaßt dies ein Handeln auf zwei Ebenen, der der Meinung in Fachkreisen und der der öffentlichen Meinung. Kontrolle kann man ausüben über Fachpresse und allgemeine Presse und über den einzelnen.
Im Fall Velikovsky vollzogen sich die Unterdrückung und die Beeinflussung der Fachmeinung so:
(A)
mündlich vor und nach der Veröffentlichung von Velikovskys Buch.
Was aus diesem Material ersichtlich ist, verblaßt immer mehr;
es besteht aus Erinnerungen von Wissenschaftlern und Verlagsvertretern.
(Das würde sich dann etwa so ausnehmen: Dr. Conant, damals Präsident der Harvard University, trifft im Century Club den Herausgeber von Harper's Magazine, und er sagt zu ihm: »Ich kann zu Ihrer letzten Ausgabe nur eines sagen: Also das geht entschieden zu weit!«)
(B)
schriftlich.
Beispiel: Noch vor Erscheinen des Buchs schreibt Madame Gaposchkin im Auftrag
des Magazins The Reporter und Dr. Chapleys aufgrund des in Harper's Magazine abgedruckten
Artikels eine vernichtende Kritik. Dieser Kritik ist eine Warnung angefügt. Und das, wie
gesagt, noch vor Erscheinen des Buches. [20]
(C)
indem man Zurücknahmen sucht.
Shapley bat seinen Kollegen an der Harvard University, Dr. Robert H. Pfeiffer, zu
bestätigen, daß seine positiven Äußerungen über Velikovskys
Zeitalter im Chaos echt seien. Pfeiffer, Dozent für
Semitische Sprachen, bestätigte es. Atwater wurde in einem Drohbrief von
Professor Otto Struve aufgefordert, seine positive Einstellung zu Velikovski zu überdenken und vielleicht
zu revidieren. Auf einem Kongreß der American Association for the Advancement of
Science, der eigens dazu einberufen worden war, sich mit Fragen der
Verlegermoral zu befassen, durfte der Verlag Macmillan öffentlich Abbitte
leisten und künftiges Wohlverhalten versprechen. (Das Gremium diskutierte über
Vorschläge, eine Prüfstelle für wissenschaftliche Publikationen einzurichten.)
(D)
indem man Gegner aus ihren Stellungen verdrängt.
Ihr Eintreten für den Anspruch Velikovskys auf Anhörung und/oder
seine Theorien scheint eine wesentliche Rolle gespielt zu haben beim erzwungenen
Rücktritt von Gordon Atwater, dem Leiter der Astronomischen Abteilung des
American Museum of Natural History und Direktor des Hayden-Planetariums, und von
James Putnam, der 26 Jahre lang als Lektor bei Macmillan gearbeitet hatte.
Der umgekehrte Fall, der Aufstieg eines nützlichen
Verbündeten, trat bei Lafleur ein, von dem das Scientific Monthly in der Vorrede zu einem zweiten
Aufsatz ein paar Monate später berichtete, er sei kurz nach seinem Artikel über
Velikovsky als Leiter eines Instituts an eine neue Universität berufen worden.
(E)
Die Techniken, öffentliche Diskussionen zu hintertreiben und zu umgehen, indem man den Zugang zu
wissenschaftlichen Gremien und zu wissenschaftlichen Publikationsmedien verwehrt-
sei es für Aufsätze, Entgegnungen oder sogar für Werbung-, sind an
anderen Stellen in diesem Buch hinreichend erläutert worden.
Darüber hinaus wirkt das Machtmodell des Rezeptionssystems so, daß es den Kreis derer, die Empfehlungen ausstellen dürfen, einschränkt. Velikovsky hatte keine anerkannten Empfehlungen. Das wurde aus den Rezensionen deutlich. Er hatte natürlich auf vielen Gebieten fundierte Kenntnisse, wie seine Leser nach und nach zugeben mußten.
Zu jener Zeit hatte er wenige Freunde, doch zählte Albert Einstein zu ihnen. Nicht lange nach Einsteins Tod berichtete Professor Bernard Cohen, Einstein habe sich mit humorvoller Geringschätzung über Velikovsky geäußert. Einstein konnte dem nicht mehr widersprechen, aber eine Anzahl von persönlichen Begegnungen und die Tatsache, daß Einstein viel von Velikovskys Material gelesen hatte, würde diese Vermutung widerlegen. (Cohen selbst nahm dies zurück, vgl. seinen Brief Seite 50.)
Etwa einen Monat vor seinem Tod schickte Einstein Velikovsky einen handgeschriebenen Brief und bedankte sich darin für Zeitalter im Chaos:
Ich freue mich auf die Lektüre des historischen Werkes, das ja die Hühneraugen meiner Gilde nicht in Gefahr bringt. Wie es mit den Hühneraugen der anderen Fakultät steht, weiß ich noch nicht. Ich denke an das rührende Gebet: Heiliger St. Florian, verschon mein Haus, zünd' andre an! Den ersten Band der Memoiren zu Worlds in Collision habe ich bereits aufmerksam gelesen und mit einigen leicht zu radierenden Randbemerkungen versehen. Ich bewundere Ihr dramatisches Talent und auch die Kunst und Geradheit von Thackeray (Thackrey) der den brüllenden astronomischen Löwen (Shapley) dazu gebracht hat, einigermaßen den königlichen Schwanz einzuziehen, unter nicht völliger Respektierung der Wahrheit.
Velikovsky versuchte, die Mächtigen zu besänftigen, zum Teil mit seinem Bemühen, den Forderungen des rationalistischen Rezeptionssystems gerecht zu werden. Er sah ein, daß Shapley und Einstein, andere natürlich auch, zwei eminent einflußreiche Leute der wissenschaftlichen Szene waren. Einstein war der Quell des Trostes, wenn nicht gar der theoretischen Unterstützung. An Shapley trat er auf die ehrliche Art heran, wie sie für »Spinner« typisch ist: bei einem öffentlichen Forum, ohne Empfehlung. Später wandte er sich schriftlich an ihn, und er hielt sich dabei naiv an die Spielregeln des rationalistischen Modells, nach denen man »zu einem Spezialisten geht, der über den notwendigen technischen Apparat verfügt, wenn man eine These experimentell überprüfen will«.
Man muß fragen, weshalb Velikovsky Shapley und Einstein wählte, und weshalb er noch weiteres tat, was auf die Gralshüter der Wissenschaft Eindruck machen sollte. Das ist ja zunächst einmal ganz »normal«. Er zeigt zwar, daß er selbst kein Feind der Autorität war, sondern immer naiv und weltfremd an eine Symbiose zwischen dem rationalistischen und dem Machtmodell glaubte. Man könnte den psychologischen Hintergrund dieser Ereignisse noch weiter untersuchen. Das gezügelte, aber dennoch notwendigerweise große Selbstvertrauen Velikovskys, das ihm ermöglichte, ein »normaler« Mensch zu sein, der immer noch viele tausend Stunden lang trotz vieler Widrigkeiten umwerfenden Hypothesen nachgeht, hatte etwas von unbewußter intellektueller Vermessenheit an sich.
Das Establishment hat schließlich noch eine weitere Waffe gegen feindliche Neuerer: die versteckte Aufnahme ihrer Ideen.
Das bekannteste Beispiel dieser Technik nennt man manchmal die »Technik der verschweigenden Fußnote«. In Quellenangaben, Fußnoten und Vorworten werden nur die Leute genannt, die zum Establishment gehören und bekannt sind. Es gibt auch eine Regel für Spezialisten auf einem ganz engbegrenzten Gebiet, nach der man nur ebenfalls so hochspezialisierte Leute zitieren darf, aus Angst, den Eindruck zu erwecken, man sei nicht spezialisiert genug, ja sogar populärwissenschaftlich. Als Trick einer Kaste kostet diese Art, bei Fußnoten Unterscheidungen zu machen, den Neuling nichts (außer vielleicht seine Selbstachtung), und sie beweist, daß er dazugehört und daß er »fortschrittlich. ist. Und er kann sich damit bei seinen hauptsächlichen Gönnern und bei den Mächtigen lieb Kind machen. Es ist ein Votum. Und man kann sich eine billigere, weniger auffallende und eine ätzendere Taktik nur schwer vorstellen.
Bis heute, obwohl es eine Menge erhärtenden Beweismaterials gibt, und obwohl schon dreizehn Jahre vergangen sind, hat kein einziger Wissenschaftler in einem Buch zugegeben, ein einziger Blick zum Himmel oder in ein altes Dokument sei dem Wunsch entsprungen, Velikovskys Beweise sine ira et studio zu prüfen. Wenn entsprechende Entdeckungen gemacht wurden, hörte man in diesem Zusammenhang den Namen Velikovskys nie.
Dann wieder greifen die Führer zu der teilweise beachtenswerten, teilweise richtigen Doktrin des Modells der Planlosigkeit und behaupten, die Ideen und Fakten lägen in der Luft, und die Neuerer hätten sich ihrer ja nur zu bedienen brauchen. Beispiele sind die Aussage Philip Abelsons, Ideen seien billig, oder Harrison Browns Behauptung, Velikovsky halte sich anscheinend für originell, und diese: »Er zitiert einige Daten, von denen wir wissen, daß sie richtig sind, einige, von denen wir wissen, daß sie zweifelhaft sind, und einige, von denen wir wissen, daß sie falsch sind.« Brown führt nicht den geringsten Beweis für seine Behauptung an. Sie entbehrt jeder Grundlage, doch ein in Kreisen der Wissenschaft weithin bekanntes Bonmot sagt, Velikovsky habe so viele Voraussagen gemacht, daß ein paar davon ja richtig sein müßten.
Oder die Propagandisten des Establishments nehmen das rationalistische Dogma her und behaupten, »es gebe unter den Voraussagen solche und solche«. Damit unterstellen sie, die Richtigkeit sei kein untrügliches Kennzeichen einer guten Voraussage. Man erklärt, Wissenschaft sei nur möglich durch richtige, methodische und laboratoriumsmäßige Arbeit. Diese ominöse Wissenschaft ist selbstverständlich nur die Auswirkung des Machtmodells und des Modells der Planlosigkeit. Deshalb regen »Velikovskys Katastrophen die Wissenschaftler noch lange nicht auf«; Madame Gaposchkin macht sich die Mühe und formuliert diese Einstellung so: »Sehen Sie, wie wir uns mit viel größeren Katastrophen abgefunden haben, die Leute vom Establishment in letzter Zeit empirisch und mathematisch bewiesen haben!«