In jeder Gesellschaftsordnung gibt es ein Rezeptionssystem. In der Untergruppe Verhaltensnormen im wissenschaftlichen Bereich besteht dieses Rezeptionssystem aus Kriterien, an Hand derer Wissenschaftler, ihre Überzeugungen und ihre Handlungen, von der Gesamtheit der Wissenschaftler beurteilt und als wertvoll, richtig und wirksam anerkannt werden.
Es ist ganz klar, wie wichtig für jede Sozialordnung ein Rezeptionssystem ist. Das Rezeptionssystem bildet den Charakter des neu Hinzukommenden so, daß er in diese Ordnung paßt, und es formt damit das Produkt der Ordnung. Wenn auch die Bezeichnung neu ist, so sind die Rezeptionsprozesse an sich schon seit langem bekannt. Wenn ein Wissenschaftler sich um die Ausbildungsmethoden und das Lehrprogramm seines Fachgebiets oder das Publikationssystem und die Beurteilungskriterien kümmert, trägt er zum Aufbau und zur Festigung dieser Ordnung bei. Politische Parteien und Massenbewegungen, religiöse Gruppen, Wirtschaftsunternehmen, Bürokratien und jede Menge privater Vereinigungen haben ähnliche Rezeptionssysteme, und natürlich sind sich in dieser Hinsicht Natur- und Geisteswissenschaften sehr ähnlich.
Die Hauptbestandteile des Rezeptionssystems sind Lehrsätze und Arbeitsformeln mit typischen Verfahrensweisen für Annahme oder Ablehnung. Deshalb gehört »die Wahrheit nach empirischen Grundsätzen« zu den Lehrsätzen des .wissenschaftlichen Rezeptionssystems. Man geht allgemein davon aus, daß aus der Vielzahl der vorgelegten Kriterien einige ausgewählt werden, die diesen Ansprüchen genügen. Die Arbeitsformel bietet eine Reihe von Methoden, mit denen untersucht werden soll, in welchem Maß die Verhaltensnormen das Kriterium »empirische Wahrheit« erfüllen. Und eine Anzahl von Verfahrensweisen findet Anwendung, um das Angebotene anzunehmen oder abzulehnen, je nachdem, ob es dieser Formel entspricht oder nicht. So wird beispielsweise eine Zeitschrift einen Beitrag entweder höflich ablehnen oder ihn, wenn er diesen Kriterien entspricht, in ihren Redaktionsplan einpassen. Man muß schließlich noch die sozialen und wissenschaftlichen Konsequenzen herausfinden und analysieren, um das System zu beurteilen und um es einer angewandten Wissenschaft von der Wissenschaft zu ermöglichen, Lehrsätze, Formeln und Verfahrensweisen zu revidieren und zu reformieren.
Man darf voraussetzen, daß ein solches Rezeptionssystem in Funktion ist, wenn eine Person, eine Überzeugung oder eine Praktik mit der ausgesprochenen oder unausgesprochenen Aufforderung zur Annahme dem kritischen Geist der Wissenschaftler vorgestellt werden. Wir sehen in Dr. Velikovsky, seinen Theorien und seinen Praktiken einen Testfall für das Rezeptionssystem der Wissenschaften.
Die Interpretation des Rezeptionssystems wird erleichtert, wenn man seine Wirkungsweise auf angenommene Modelle überträgt. Zahlreiche Modelle sozialen Verhaltens in einer gegebenen Umwelt sind denkbar, da der Aufbau jedes Einzelmodells nur von der Vorstellung einer geordneten Handlungsdynamik abhängt, und da der Wert (oder der Nutzen) solcher Modelle nur theoretisch und statistisch, nicht absolut ist. Die Zahl der Hauptmodelle läßt sich auf eines einschränken im Fall rein von der Motivation und rein von der Handlungsweise her bestimmten Verhaltens, oder man muß im Fall des gewöhnlich komplizierten Wirkens sozialer Institutionen mehrere annehmen. Beim wissenschaftlichen Rezeptionssystem besteht das Problem darin zu unterscheiden, welches postulierte Schema oder welcher Komplex von Motiven und Normen am besten erklärt, was in der Mehrzahl der Fälle geschieht, die vom Rezeptionssystem entschieden werden. Was ist der Grund für Annahme oder Ablehnung von Menschen, Überzeugungen und Handlungsweisen?
Die historische Soziologie der Wissenschaften muß auf lange Sicht Material und Analysen in genügender Menge bereitstellen, an denen sich empirisch nachprüfen läßt, daß ein oder mehrere gegebene Modelle in groben Zügen brauchbare Erklärungen für die Mehrzahl der entsprechenden Entscheidungen liefern. Ein Einzelfall, wieder der Velikovskys, kann zwar im Endeffekt zu einer historischen Soziologie der Wissenschaft beitragen, aber er kann nicht selbst den Wert der angewandten Modelle erweisen.
Wenn jedoch aus dem uns schon bekannten Material und aus solchen Schriften wie dem Aufsatz Livio Stecchinis das hypothetische Modell noch erhärtet wird, so sind wir geneigt, ihm mehr Gültigkeit zuzuerkennen, als nach dem Einzelfall an sich gerechtfertigt erscheint. Zudem muß, damit ein Gesetz das Verhalten gesellschaftlicher Gruppen charakterisieren kann, die Gerechtigkeit schließlich so definiert werden, daß sie auf die einzelnen Gruppen paßt. Daher genügt die Feststellung, daß in einem Einzelfall Unrecht geschehen ist, daß sofort Maßnahmen zu seiner Behebung ergriffen werden. Man darf sich nicht auf das statistische Mittel und die »lange Sicht« hinausreden. Wenn ein postuliertes Modell des Rezeptionssystems der Wissenschaften auf einen Fall zutrifft, und man glaubt, es sei entweder persönlich ungerecht [1] oder gesellschaftlich (wissenschaftlich) schädlich, dann erhebt sich natürlich die Frage, ob der Fall erneut aufgerollt werden soll, und auch die Frage, ob das typisch ist, das Modell normal ist und ob man die Normen (Regeln) wissenschaftlichen Verhaltens revidieren soll.
Vier Modelle scheinen zu einem großen Teil die Wirkungsweise des Rezeptionssystems der Wissenschaften zu erklären. Man kann sie das rationalistische Modell, das Modell der Planlosigkeit, das Machtmodell und das dogmatische Modell nennen.