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Alfred de Grazia:
(Herausgeber)


Die Velikovsky Affäre


Livio C. Stecchini

Auf den Trümmern des Panbabylonismus

Die Panbabylonisten waren die Neuerer, und Kugler wies nach, daß ihre Behauptungen teilweise unrichtig waren. Man wertete daher ihr Schweigen in akademischen Kreisen als Eingeständnis ihrer Niederlage. Aber auch Kugler war in die Ecke gedrängt worden, und nach 1914 ließ er nichts mehr verlauten. Wissenschaftler, die auf ihrem Weg zu akademischen Ehren dornenvollen Problemen lieber aus dem Weg gingen, taten so, als seien die Panbabylonisten gänzlich widerlegt. Doch selbst wenn man annimmt, Kugler hätte dem Panbabylonismus den Garaus gemacht, so sollte man sich fragen, ob nicht doch noch ein paar wertvolle Stücke aus den Trümmern herauszuholen seien.

Ein verzerrtes Bild über den Stand der Kontroverse entstand dadurch, daß Delitzsch 1920, im Alter von 70 Jahren, zwei Jahre vor seinem Tod, einen letzten Pfeil auf seine religiösen Gegner mit seinem Buch Die große Täuschung abschoß, in dem er einige der ursprünglichen Positionen der Panbabylonisten wiederholte und noch breiter darstellte. So behauptete er, viele der eindrucksvollsten Schilderungen im Alten Testament müßten als astronomische Informationen gedeutet werden, und diese Informationen hätten in der wissenschaftlichen Astronomie Mesopotamiens ihre Wurzeln. Der Titel des Buchs bezieht sich auf die Religion des Alten Testaments. Das Buch machte in den Kreisen des religiösen Judentums und Christentums Furore. Bei weniger engagierten Kreisen erregte es Argwohn jeglicher Art. Delitzsch fühlte sich verpflichtet, einen Artikel zu schreiben, in dem er einen knappen Lebensabriß gab, um zu beweisen, daß nicht Antisemitismus die Triebfeder war [16].
Die Brockhaus Enzyklopädie, Ausgabe 1972, schreibt im Artikel »Panbabylonismus« folgendes: »Der Panbabylonismus hat wegen der Einseitigkeit seiner Betrachtungsweise (>religionswissenschaftlicher Diffusionismus<) heute nur noch historisches Interesse. « Dieses Urteil mag auf Delitzsch zutreffen, aber nicht auf andere Panbabylonisten, die versuchten, theologische Fragen zu umgehen, und sich auf die Interpretation von Keilschrifttexten beschränkten.

1914 stellten sie den Kampf ein, denn sie wußten nicht recht, wie sie auf Kuglers Aufzählung der »groben Fehler« in den frühbabylonischen Aufzeichnungen reagieren sollten. Weidner versuchte sich an einer Antwort, indem er darauf aufmerksam machte, daß die Liste des Ptolemäus über die Stellung der Fixsterne ja auch einige Fehler enthalte [17]. Aber das ist als Verteidigung des hohen Niveaus mesopotamischer Astronomie kein sehr glückliches Argument. Er hätte einen Stich machen können, wenn er den Mut gehabt hätte, aus den Aufzeichnungen den Schluß zu ziehen, die mesopotamischen Astronomen hätten sich irgendeiner Art optischer Vergrößerung bedient. Aber die Panbabylonisten ließen sich von Kuglers Feststellung von 1910 ins Bockshorn jagen: »Gleich von Anfang an muß man die Annahme, die Babylonier hätten schon Fernrohre gekannt, ins Reich der Illusionen verweisen.«

Sie machten sich lächerlich durch ihre Behauptung, die Babylonier hätten überdurchschnittlich gute Augen gehabt. Alle, die mit Messungen zu tun haben, sind sich einig, daß das menschliche Auge Unterschiede von weniger als einer Bogenminute nicht wahrnehmen kann. Man hat ins Feld geführt, daß aus diesem praktischen Grund der Grad in 60 Minuten eingeteilt wurde. Ein Objekt, das wegen seiner Größe und seiner Entfernung einen Winkel von weniger als einer Bogenminute ausfüllt, wird als Punkt ohne erkennbare Form wahrgenommen. Der scheinbare Durchmesser der Venus schwankt zwischen weniger als 10'' und 63'' in größter Erdnähe (also in der unteren Konjunktion); aber an diesem Punkt kehrt sie uns ihre Nachtseite zu (sie steht wie der Neumond zwischen Sonne und Erde), so daß man sie auch mit einem Teleskop nur sehr schwer sehen kann. Der günstigste Zeitpunkt, zu dem ein Amateurastronom die Venus beobachten kann, liegt etwa einen Monat vor oder nach der unteren Konjunktion, wenn sie als eine dünne Sichel erscheint. Die vier Jupitersatelliten lägen an sich im Bereich der sichtbaren Objekte, denn sie sind so hell wie Sterne der 4. oder 5. Ordnung, aber entscheidend ist der Winkel, in dem sie zum Jupiter stehen. Wir nehmen als ein Licht zwei Sterne wahr, die weniger als 3 Bogenminuten auseinanderliegen.

Anhänger Velikovskys könnten einwenden, die Phasen der Venus seien zu sehen gewesen, weil es eine Zeit gegeben habe, in der die Venus sich noch mehr der Erde angenähert hat. In diesem Sinn hat Lynn E. Rose - Mathematiker und Astrophysiker haben ihm dabei geholfen Untersuchungen durchgeführt mit dem Ziel, die Umlaufbahnen von Erde, Mars und Venus vor der Ära Nabonassar zu berechnen [18]. Er hat sogar die Möglichkeit erwogen, es könnte eine Zeit gegeben haben, in der die Venus zu den äußeren, der Mars zu den inneren Planeten gehört habe. Aber selbst wenn diese Untersuchungen zu gesicherten Ergebnissen führen würden, so könnten sie doch nicht eine Antwort auf alle Fragen geben, die die Panbabylonisten gestellt haben.

Eine Frage ist allgemein übergangen worden, die nach meiner Auffassung zuallererst gestellt werden muß, wenn es um antike Astromythologie geht: Wie konnte man sich Jupiter als den Herrscher über alle Götter vorstellen, wenn der Planet Jupiter, obgleich bei weitem der größte, dem bloßen Auge nur als ein nicht übermäßig heller Punkt erscheint? Man kann jedoch schon mit einem relativ schwachen Fernrohr erkennen, daß der Jupiter einen größeren scheinbaren Durchmesser hat als alle anderen Planeten; er schwankt zwischen 30'' und 50''. Ich will damit nicht behaupten, der scheinbare Durchmesser des Jupiter sei die einzige Erklärung dafür, daß ihm die Mythologie diese Rolle zugeschrieben hat. Es könnte jedoch diese Rolle zum Teil erklären.

Seit den großen Debatten der Zeit vor dem 1. Weltkrieg haben Fachleute auf dem Gebiet der antiken Astronomie schwierige Probleme umgangen. Pater Johann Schaumberger gab 1935 einen Nachtrag zu Kuglers Sternkunde heraus, dem die Notizen, die Kugler vor seinem Tod nicht mehr veröffentlicht hatte, zugrunde lagen. Als er merkte, daß Kugler auf Weidners Erklärung von 1914 über die Phasen der Venus nicht mehr geantwortet hatte, nahm er an, Weidner sei stillschweigend widerlegt [19]. Weidner argumentierte damit, daß in den Keilschrifttexten ein Hinweis auf die »rechte« und »linke« Sichel der Venus enthalten sei. Man habe dafür ein sumerisches Schriftzeichen hergenommen, das den zunehmenden oder abnehmenden Mond bedeute. Schaumberger bemerkte, man habe Texte gefunden, in denen dasselbe Symbol auf den Mars angewandt sei; da man zweifellos die Phasen des Mars nicht mit bloßem Auge sehen könne, so dürfe man das Schriftzeichen nicht so deuten, daß es sich auf eine mondähnliche Form beziehe. Er ließ dabei außer acht, daß der Mars, wenn er in Quadratur ist, d. h. kurz vor und nach seiner nächsten Erdnähe, einen Umriß hat, der dem Mond im zweiten und dritten Viertel ähnlich ist. Mittels eines schwachen Fernrohrs hat Francesco Fontana 1636 dies als erster entdeckt.

Es scheint mir nach dem ganzen Beweismaterial so zu sein, daß die mesopotamischen Astronomen irgendein Vergrößerungsgerät gehabt haben müssen. [20] Aber selbst wenn man dieser Möglichkeit nicht weiter nachgeht, so bleibt doch festzuhalten, daß den Astronomen Mesopotamiens die Phasen der Venus und des Mars sowie vier Jupitermonde bekannt waren und sie eine Ahnung von der Riesengröße des Jupiter gehabt haben. Die Frage, ob ein Einfluß mesopotamischer Astronomie auf die Astromythologie anderer Länder da war können wir für den Augenblick übergehen. Das Wesentliche ist, daß man diese frühen Astronomen nicht einfach als Phantasten abqualifizieren kann, denen die empirische Realität gleichgültig war und die keinen Sinn für Wissenschaft hatten; damit hatten die Panbabylonisten sicherlich recht.

Kugler wiederum hatte mit seiner Behauptung recht, die frühen Aufzeichnungen in Keilschrift enthielten scheinbar völlig falsches Zahlenmaterial, und daß nach dem Beginn der Ära Nabonassar babylonische Astronomen Berechnungen zu dem Zweck anstellten, grundlegende Daten festzulegen, ohne die eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den Vorgängen am Himmel nicht möglich ist. Kugler muß den Gedanken gehabt haben, daß der Grund für diese Unstimmigkeit vielleicht eine Verschiebung der Bewegungen am Himmel war, die vor der Ära Nabonassar eingetreten ist.

Nach 1914 stellte Kugler tatsächlich die Veröffentlichung seines Hauptwerks ein, das ihm weltweiten Ruhm eingebracht hatte. Ursprünglich sollte den beiden ersten Bänden, die sich mit Beobachtungsdaten befassen, ein dritter folgen, in dem Mythologie und kosmologische Vorstellungen abgehandelt werden sollten. Band III erschien nie; die Broschüre aus dem Jahr 1927 über den Phaëton-Mythos hat diesen Band, wenn auch nur in sehr beschränktem Umfang, ersetzt.

Die Absicht und der Zweck dieser Broschüre waren nicht so sehr nachzuweisen, der Phaëton-Mythos deute auf eine kosmische Katastrophe hin, die um die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. eingetreten ist, sondern darauf hinzuweisen, daß ganz allgemein Astromythologien auf astronomischen Ereignissen basieren. Kugler hätte Velikovsky sicher zugestanden, es sei durchaus legitim, die Mythologie als Quelle für astronomische Ereignisse heranzuziehen.

Im wesentlichen akzeptierte Kugler einen der Hauptpunkte der Panbabylonisten. Es stimmt vielleicht nicht, daß Mesopotamien das Zentrum für die Verbreitung von Astromythologien war, aber die Panbabylonisten haben zu Recht festgestellt, daß man in Mesopotamien Angaben finden kann, die eine hervorragende Quelle astronomischen Wissens sind. Dieses Wissen ist nicht nur in die Form mythologischer Geschichten gekleidet, sondern es findet sich auch als Aufzeichnungen in meßbaren Größen.

Die Keilschrifttafeln astronomischen Inhaltes aus der Zeit vor Nabonassar muß man so nehmen, wie sie sind. Es geht nicht mehr an, von Nachlässigkeit bei den Messungen zu sprechen. Seit der Veröffentlichung von Kuglers Schriften sind diese Tafeln beinahe völlig übergangen worden, und das Ergebnis ist, daß nur ein Bruchteil des vorhandenen Materials publiziert ist. Die Sammlungen solcher Tafeln, die in einigen Museen schlummern, stammen aus Ausgrabungen ganzer astronomischer Bibliotheken in Mesopotamien. Die Fülle des Vorhandenen ist so groß, daß Dutzende von Wissenschaftlern vieler Generationen zu tun hätten, das Material aufzuarbeiten. Aber diese Mühe würde sich lohnen, denn die Tafeln enthalten mehr als allgemeine Berichte über Ereignisse wie die, die Velikovsky untersucht hat. Sie enthalten genaue quantitative Daten, die es ermöglichen, die Geschichte des Sonnensystems auf empirischen, nicht metaphysischen Grundlagen nachzuzeichnen.




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