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Alfred de Grazia:
(Herausgeber)


Die Velikovsky Affäre


Livio C. Stecchini

Der Panbabylonismus



Da Kuglers Büchlein über den Phaëton-Mythos keine Beachtung fand, beruhte sein Ruhm auf dem Monumentalwerk Sternkunde und Sterndienst in Babel. Band I erschien 1907, Band II 1909; 1913 kamen Ergänzungen heraus. Der Inhalt besteht im wesentlichen in der Edition, Interpretation und numerischen Analyse astronomischer Texte in Keilschrift. Noch heute wird er als unschätzbare Quelle zitiert. Aber bei den Zitaten verschweigt man, daß dieses Werk geschrieben wurde zur Lösung astromythologischer Fragen. Den zwei veröffentlichten Bänden sollte ein dritter über Mythologie folgen. Aus Gründen, auf die ich später eingehe, erschien dieser dritte Band nicht.

In der Zeit zwischen der Jahrhundertwende und dem I. Weltkrieg tobten auf dem Gebiet der alten Geschichte heftige Debatten über den Wert einer Theorie, die unter dem irreführenden Namen Panbabylonismus lief. Um zu erläutern, wie diese Theorie zustande kam, müßte man einen Abriß der Geschichte der Keilschrift-Entzifferung geben, aber ich will mich in diesem Zusammenhang nur auf ein paar wesentliche Punkte beziehen. Die Entzifferung der Tontafeln, die man nach 1842 bei Ausgrabungen in Mesopotamien fand, lösten einen Umbruch in den Bibelwissenschaften aus. Man entdeckte, daß viele biblische Berichte enge Parallelen in den keilschriftlichen Darstellungen hatten. Ein einschlägiges Beispiel ist die Geschichte von der Sintflut und der Arche. Es war schwierig, eine Erklärung für diese Parallelen zu finden, und die Aufgabe wurde dadurch noch erschwert, daß das Alte Testament Juden und Christen als Heilige Schrift gilt. Für die Konservativen ist es sogar Zeugnis göttlicher Offenbarung. Das Problem wurde noch verworrener und nahm an Wichtigkeit zu, als man dahinterkam, daß solche Episoden nicht nur dem Alten Testament und den Keilschriftberichten eigen waren, sondern in den Mythologien der verschiedensten Weltgegenden ebenfalls vorkamen. Die Sintflut ist das bekannteste Beispiel. Bis heute sind sich die Gelehrten noch nicht einig, wie diese erstaunlichen Übereinstimmungen zu erklären sind. Velikovskys Hypothesen sind ein Versuch zur Lösung dieser Fragen, die entscheidend sind für das Verständnis der Entwicklung spezieller Kulturen und der Kultur ganz allgemein.

Die Entzifferung keilschriftlicher Zeichen (besonders der sumerischen) hatte sich zum Teil auf die Mathematik gestützt; Dokumente, die Maßangaben enthielten, waren dabei besonders nützlich. Man entdeckte, daß die Sumerer zu der Zeit, als sie die Schrift schufen, schon ein ausgebildetes System von Längen- und Hohlmaßen und Gewichten besaßen. Die Tatsache, daß es ein Sexagesimalsystem war, verbindet es mit den Zeiteinheiten. Noch ehe man die Tontafeln zu lesen anfing, hatte man schon vermutet, die Maße der antiken Welt gingen auf Mesopotamien zurück. Ein Höhepunkt in der Entwicklung der Keilschriftkunde war ein Vortrag, den C. F. Lehmann-Haupt auf dem Internationalen Orientalistenkongreß 1889 in Stockholm hielt, »Das altbabylonische Maß- und Gewichtssystem als Grundlage der antiken Gewichts-, Münz- und Maßsysteme«. Da der Gedanke, ein einziges Maßsystem habe sich über die ganze Welt von Mesopotamien aus durch Diffusion verbreitet, allgemein Anklang fand, lag der Schluß nahe, naturwissenschaftliches Denken habe sich von dort aus ebenfalls durch Diffusion verbreitet.

Friedrich Delitzsch (1850-1922) überlegte, ob man den Gedanken der Diffusion aus der Mathematik auf die Lösung der Frage der Ähnlichkeit zwischen den Mythologien der Welt übertragen könne. Dieser Gelehrte war eine der Koryphäen der Keilschriftkunde, und er entwikkelte eine umfassende Theorie, die sich auf zwei Argumente stützt. Das erste sind die allen Mythologien gemeinsamen Elemente. Nach dem zweiten ist in Mesopotamien schon sehr früh eine fortschrittliche Astronomie entstanden, die sich in Gestalt von Mythen durch Diffusion über die ganze Welt verbreitet hat. Im wesentlichen hätte die Mythologie dann als Mittel der Verschlüsselung astronomischer Information gedient. Nach dieser Deutung war das mythologische Gewand eine Art Gedächtnisstütze. (Nach Velikovskys Deutung ist die Erinnerung an ein astronomisches Ereignis in die Form eines Mythos gekleidet worden, weil ein direktes Sich-Erinnern zu traumatisch gewesen wäre.)

Der Grund, weshalb die Panbabylonisten es so eilig hatten, eine umfassende Theorie aufzustellen, bevor sie alles verfügbare Material gesichtet hatten, war, daß die Keilschriftkundler sich genötigt sahen, Leuten zu antworten, die sich mit dem Alten Testament befaßten; diese Kategorie war bunt gemischt und reichte von Alttestamentlern bis zu religiösen Fanatikern. Die Entdeckung, daß sich die Berichte im Alten Testament und auf den Keilschrifttafeln ähnelten, hatte unter den Bibelexegeten, ob nun Gelehrte oder Laien, einige Unruhe gestiftet. Vieles von dem, was da geschrieben wurde, war verantwortungsloser Unfug, und es wurde dabei auch teilweise auf das Interesse der breiten Öffentlichkeit schamlos spekuliert. Die von deutschen Archäologen geplante Ausgrabung des Turms von Babel schien symbolisch für diese Situation: In Deutschland ging das Schlagwort von Bibel und Babel um, ein Ausdruck, der im Englischen zu »Bibel, Babel and babbeln« erweitert wurde. Deutsche Wissenschaftler, die auf dem Gebiet der Keilschriftkunde weltweit führten, hielten es für ihre Pflicht und Schuldigkeit, eine eindeutige Formulierung zu finden, die dieser Sprachverwirrung ein Ende machen könnte.

Delitzsch und seine vielen Anhänger unter den Keilschriftspezialisten hätten eine feste Grundlage gehabt, wenn sie sich auf ihr Fachgebiet beschränkt hätten und dem hohen Niveau mesopotamischer Astronomie nachgegangen wären. Statt dessen schossen sie in einer Art imperialistischer Begeisterung für ihre Disziplin weit übers Ziel. Zum Beispiel starteten sie eine überflüssige und meines Erachtens fehlgeleitete Kampagne, die Leistungen ägyptischer Mathematiker und Astronomen herabzusetzen. Zu schnell wollten sie das große Rätsel der Parallelen in den Mythologien der Welt lösen. Der Panbabylonismus setzte sich in den deutschen Gelehrtenkreisen so sehr durch, daß Delitzsch 1902 gebeten wurde, seine Ideen in zwei öffentlichen Vorträgen in Gegenwart des Kaisers vorzustellen. Der Kaiser war so beeindruckt, daß er Delitzsch aufforderte, sie für ihn und seinen Hof zu wiederholen. Diese Vorträge wurden sofort ins Englische übersetzt. Auch in England erregte die Theorie so sehr das öffentliche Interesse, daß die Londoner Times am 25. Februar 1903 einen Leserbrief von Wilhelm II. veröffentlichte, in dem er denen antwortete, die daran gezweifelt hatten, ob er seine kaiserliche Pflicht der Stärkung des christlichen Glaubens erfülle.







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