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Alfred de Grazia:
(Herausgeber)


Die Velikovsky Affäre


Livio C. Stecchini

Laplace

Unter jenen wenigen, die einen noch durchdringenderen kritischen Verstand als Voltaire und die sogenannten philosophes besaßen, löste die Metaphysik Newtons eine gegenteilige Reaktion aus. Durch eine kritische Auseinandersetzung mit ihr führten seine Zeitgenossen Berkeley (1685-1753) und Hume den wissenschaftlichen Empirismus ein und legten damit den Grundstein für unsere heutige wissenschaftliche Methodik. Genauso wie die führenden englischen Philosophen, denen sich Hegel (1770 -1831) bald anschloß, Newtons metaphysischen Nebel teilten, so schlossen sich die führenden Naturwissenschaftler Frankreichs nicht einem Popular-Newtonistnus an. Sie unterschieden sehr wohl zwischen dem, was Newton bewiesen und dem, was er nicht bewiesen hatte. Die Historiker sehen in der Zurückhaltung der Académie des Sciences gegenüber Newton ein obskurantistisches Festhalten an Cartesianischer Tradition. Aber diese kritische Haltung der französischen Naturwissenschaftler gab den Anstoß zu den Forschungen von Laplace, dem größten Genie auf dem Gebiet der mathematischen Astronomie seit Newton. Mit Laplace wurde die auf Gravitation beruhende Himmelsmechanik auf eine feste Grundlage gestellt, und die göttliche Vorsehung als Erhalterin der unveränderlichen Ordnung wurde entthront.

Durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch berief man sich darauf und die Gegner Velikovskys tun es heute noch -, Laplace (1749-1827) habe den mathematischen Beweis dafür erbracht, daß das Sonnensystem und deshalb auch die Natur auf dem Prinzip des Uhrwerks beruhen. Aber das ist nur die eine Seite des Gesamtbildes. In der Exposition du systeme du monde braucht er zwei Seiten dazu auseinanderzusetzen, die Menschheit müsse lernen, sich ohne quälende Angst damit abzufinden, ein Komet könnte auf der Erde einschlagen [30]. In seinem anderen Hauptwerk, Theorie analytique des probabilites, beharrte er auf seinem Standpunkt, die Erdbewegungen seien nicht unveränderlich, denn sie seien verschiedenen unberechenbaren Gewalten unterworfen, unter anderem dem Einschlag von Meteoriten [31]. Es war ihm klar, daß die Weigerung, sich mit dem Gedanken einer Veränderung des Himmels vertraut zu machen, ihre Wurzel in der Angst habe, die moralischen Gesetze könnten dadurch Schaden erleiden. Aus diesem Grund räumt er der Erörterung dieser Frage einen breiten Raum ein, und er bedient sich dazu der Psychologie. Er argumentiert ähnlich wie Hume, Mitleid unter den Menschen bedürfe traditioneller Metaphysik nicht [32] Es ist erwähnenswert, daß diese Behandlung der Psychologie an das Thema frühkindlicher Erinnerungen und die Rolle des unbewußten Denkens anknüpft [33].

Laplace erkannte, man könnte aus seinen mathematischen Formeln den Schluß ziehen, »daß die Natur alles am Himmel so geordnet hat, um die Dauerhaftigkeit des Planetensystems zu garantieren, mit dem gleichen Zweck, dessen sie sich auf der Erde bedient zur Bewahrung des einzelnen und zur Erhaltung der Art [34]» Er fügte hinzu. ein solcher Schluß sei falsch, obwohl wir »von Natur aus dazu neigen anzunehmen, daß die Ordnung, nach der sich auf Erden alle Dinge zu erneuern scheinen, zu allen Zeiten existiert hat und für alle Zeiten existieren wird [35]«. In Wirklichkeit wird die Stabilität der gegenwärtigen Ordnung »durch verschiedene Ursachen gestört, die man zwar aufgrund sorgfältiger Analyse erkennen, aber sie unmöglich in eine Berechnung einbeziehen kann [36]«. Seine Meinung faßte er so zusammen: Le ciel mime, malgre fordre de ses mouvements n'est pas inhalterable (Der Himmel selbst ist trotz der Ordnung in seinen Bewegungen nicht unveränderlich .) [37] . Er wies nachdrücklich darauf hin, daß er in seinen mathematischen Formeln über das Sonnensystem die Kometen nicht berücksichtigt habe. Mit gleicher Deutlichkeit stellte er fest, die Bewegung der Erde könne durch Meteoriten beeinflußt werden, und man solle daher das historische Beweismaterial prüfen, selbst wenn es nur ein paar Jahrtausende zurückreiche.

Laplace betonte, die Menschen seien von der quälenden Angst besessen, ein Komet könne die Erde aus ihrer Bahn Schleudern, eine Angst, die sich auf dramatische Weise äußerte, nachdem der Lexellsche Komet 1770 in nur 2 400 000 km Entfernung an der Erde vorbeigeflogen war. Kurze Zeit später veröffentlichte Lalande eine Liste der Kometen, die sich der Erde am weitesten genähert hatten [38]. Die Menschen sollten sich von dieser Angst freimachen, stellte Laplace fest; die Wahrscheinlichkeit, daß ein Komet während der Spanne eines Menschenlebens auf die Erde falle, sei sehr gering, obwohl sie für die Jahrhunderte sehr groß (tres grande) sei [39]. Er beschreibt sodann die möglichen Auswirkungen eines Zusammenstoßes; das Bild, das er entwarf, sieht dem Velikovskys sehr ähnlich. Vieles in der Geologie der Erde und in der Geschichte der Menschheit werde verständlich, wenn man annehme, ein solcher Einschlag hätte stattgefunden. Wenn dies jedoch geschehen sei, müsse der Komet eine ähnliche Masse wie die Erde gehabt haben [40]. Velikovsky vermutet, dies sei die Venus gewesen, die die erforderliche Masse hat.

Laplace faßt seine Hypothesen wie folgt zusammen:

Die Achse und die Rotationsbewegungen würden verändert. Die Meere würden ihre ursprüngliche Lage verlassen und sich auf den neuen Äquator zubewegen; ein großer Teil der Menschen und der Tiere würde in dieser allgemeinen Flut ertrinken, oder sie würden durch den heftigen Aufprall auf die Erdkugel getötet, ganze Arten würden ausgelöscht; alle Denkmäler menschlichen Fleißes würden vernichtet; all das würde der Einschlag eines Kometen anrichten, wenn seine Masse etwa der der Erde entspräche.

Wir verstehen nun, warum das Meer von den hohen Bergen zurückgewichen ist, auf denen es deutlich sichtbare Zeichen hinterlassen hat. Wir verstehen, wie die Tiere und Pflanzen des Südens sich im Klima des Nordens halten konnten, wo man ihre Überreste und Versteinerungen entdeckt hat; schließlich gibt es eine Erklärung dafür, daß die menschliche Kultur so jung ist, von deren Denkmälern manche nur 5000 Jahre zurückreichen. Die auf eine so kleine Zahl reduzierte Menschheit, und die sich noch dazu in einem so jämmerlichen Zustand befand, dachte lange Zeit nur an das eigene Überleben und muß die Erinnerung an die Wissenschaften und Künste ganz verloren haben. Und wenn mit der Entwicklung der Kultur dieser Mangel erneut fühlbar werde, mußte man einen neuen Anfang machen, so, als wäre der Mensch erst jetzt auf die Erde gekommen.


Laplace stellt sich auch die Frage, ob die Gestirne von anderen Kräften als nur der Gravitation beeinflußt werden, wie beispielsweise Elektrizität und Magnetismus [41]. Er schloß eine solche Möglichkeit nicht aus, obwohl nach den vorhandenen Berechnungen sich ihr Einfluß nicht nachweisen ließ. Doch als Velikovsky feststellte, die Planeten im Sonnensystem hätten starke elektrische Ladungen, und diese wirkten auf ihre Bewegungen ein, brachten einige Astronomen dagegen vor, Laplace hätte dies schon als unmöglich nachgewiesen. Der erste empirische Beweis für die Einwirkung magnetischer Kräfte auf die Bewegung der Erde liegt jetzt vor.

Nirgends in der naturwissenschaftlichen Literatur findet sich ein Hinweis auf die oben angeführten Gedanken von Laplace. Er erntete sofort Ruhm dafür, daß er den mathematischen Beweis für die Stabilität des Sonnensystems geliefert habe, der bei Newton fehle. Dabei hatte er doch nachdrücklich vor einer solchen Interpretation seiner Schlußfolgerungen gewarnt.

Die Interpretation der Laplaceschen Theorien wurde durch eine weniger wesentliche Aussage beeinflußt. Er hielt es für nötig, Newtons Argument zu widerlegen, die Tatsache nämlich, daß alle Planeten und ihre Trabanten sich gegen den Uhrzeigersinn bewegen, rühre von der göttlichen Vorsehung her [42]. Er rechnete aus, es sei statistisch nahezu unmöglich, daß eine solche Rotation rein zufällig sei, und schloß daraus, es müsse das Ergebnis einer allgemeinen mechanischen Gesetzmäßigkeit sein [43]. So entwickelte er die Nebelhypothese, auf die unabhängig voneinander schon der Theologe Emanuel Swedenborg (1688-1772), der Philosoph Kant und der Astronom Johann Heinrich Lambert (1728-1777) gekommen waren. Aber Laplace wußte noch nichts von den Satelliten, die im Uhrzeigersinn rotieren. Er hätte sicher seine Freude gehabt, wenn er von den 1963 vorgelegten Beweisen gewußt hätte, die auf eine Bewegung der Venus im Uhrzeigersinn schließen lassen. Die einheitliche Richtung, in der die Planeten sich drehen und umlaufen, war keineswegs einer der Kernpunkte seiner Ansicht und galt für ihn als Stein des Anstoßes für sein probabilistisches Weltbild.

Aus dem folgenden Zitat läßt sich erkennen, wie die Laplaceschen Theorien von ihren Deutern verzerrt wurden:

Wir werden ganz natürlich dazu gebracht, nachzudenken über die große Wahrheit der Stabilität und Unwandelbarkeit des Sonnensystems, wie sie durch die Entdeckungen von Lagrange und Laplace bestätigt wird . . . Die Ordnung, auf der die Festigkeit des Sonnensystems beruht, muß deshalb ein allwissendes göttliches Wesen, das die ganze Zukunft voraussieht, geplant und so unendlich geschickt ausgeführt haben, daß sein Werk für alle Zeiten Bestand hat. Man kann nur vermuten, in welcher Weise die Kometen, deren Bahnen nicht diesen Gesetzen unterliegen, und die sich in verschiedenen Richtungen bewegen, in Zukunft mit diesem System in Konflikt kommen. Sie sind in vergangenen Zeiten nicht mit diesem System in Konflikt geraten, was zweifellos auf ihre geringe Dichte zurückgeht. Es kann für uns gar keinen Zweifel geben, daß diese Weisheit auch für zukünftige Stabilität sorgen wird, denn sie hat die Bewegungen des Planetensystems so harmonisch geordnet, daß die Unregelmäßigkeiten, die notwendigerweise aus der gegenseitigen Beeinflussung entstehen, ein Maximum erreichen und dann verschwinden. [44]

Laplace ging es darum, die göttliche Vorsehung auszuschalten, und er bewies (innerhalb der Grenzen formaler Exaktheit, die zu seiner Zeit in der Mathematik als ausreichend galten), daß die gegenseitige Beeinflussung der Planeten durch ihre Gravitation das System nicht zerstören kann [45]. Aber das ist eine empirische, keine metaphysische Schlußfolgerung. Sie gilt nur, wenn andere Faktoren ausgeschlossen sind, d. h. wenn man annimmt, daß das Sonnensystem isoliert im Weltraum steht, daß die Sonne keinen Veränderungen unterliegt, und daß keine Materie und keine anderen Kräfte außer Gravitation und Trägheit in dem Raum, in dem sich die Sonne und die Planeten bewegen, vorhanden ist. Wenn man Laplace dahingehend interpretiert, er habe die theologischen Prämissen gestützt, macht man damit die naturwissenschaftlichen Errungenschaften der Renaissance zunichte. Wir sind wieder bei der Scholastik gelandet, und Aristoteles ist wieder il maestro di color ehe sanno (der Meister all derer, die wissen) in einer Frage, die Galilei als zentral für das neue Denken ansah. In dem Kapitel »Der Erste Tag« des Dialogs über die Großen Weltsysteme, das sich mit der Widerlegung der Auffassung von der Unveränderlichkeit des Himmels befaßt, formuliert der große Astronom sein Glaubensbekenntnis ganz eindeutig:

Ich kann es nicht ohne große Verwunderung, ja Ungläubigkeit hören, daß bei Himmelskörpern Unempfindlichkeit, Unveränderlichkeit, Stetigkeit als großer Vorzug und als Zeichen der Vollkommenheit gelten; wie ich umgekehrt höre, daß es als Zeichen großer Unvollkommenheit gilt, veränderlich oder wandlungsfähig zu sein oder sich entwickelt zu haben. Ich bin der Meinung, daß die Erde erhaben und bewunderungswürdig ist durch die vielen Veränderungen, Umwandlungen und Entwicklungen, die ständig auf ihr geschehen . . . Ich sage das gleiche in Bezug auf Mond, Jupiter und die anderen Gestirne des Universums . . . Die Leute, die Unvergänglichkeit, Unveränderlichkeit usw. so sehr preisen, sprechen aus dem sehnlichen Wunsch heraus, lange zu leben und aus Todesangst ...

Galilei stimmt genau mit Deweys Argument und Velikovskys psychologischer Annahme überein.

Das psychologisch bedingte Bedürfnis des Menschen, an die ewige Stabilität des Sonnensystems zu glauben, war der Grund dafür, daß Laplace so interpretiert wurde. Die folgenden Zitate aus An Analytical view of Sir Isaac Newtons's Principia von H. P. Brougham und E. J. Routh sind ein gutes Beispiel für diese allgemeine Tendenz:

Die übrigen Veränderungen in den Umlaufbahnen und Bewegungen der Himmelskörper, so fanden diese großen Geometriker (Laplace und Lagrange) heraus, folgen einem Gesetz periodischer Wiederkehr, das die ewige Stabilität des Systems garantiert.

Diese Abweichungen in den himmlischen Bahnen und Bewegungen schwanken sozusagen um einen Mittelpunkt, von dem sie sich in beiden Richtungen nie über einen bestimmten Abstand hinaus entfernen, so daß am Ende von Tausenden von Jahren das ganze System (jeder Himmelskörper unterliegt dabei eigenen Langzeitschwankungen) genau an den Punkt zurückehrt, an dem es sich am Beginn der Zeiten befand [46].

Der religiöse Ton, der daraus spricht, ist unüberhörbar. Man versteht Laplace so, als habe er behauptet, Himmelskörper könnten nur zwei Arten von Bewegungen ausführen: Kreiselbewegungen und gleichsinnige Vorwärtsbewegungen, d. h. Bewegungen, die gleichbedeutend mit scheinbarem Stillstand sind. Es ist, abgesehen von einigen Fiorituren, ein vollständiger Rückfall in die Lehre des Aristoteles, nach der Himmelskörper nur Kreisbewegungen ausführen können, Bewegungen, die sich mit scheinbarer Bewegungslosigkeit vereinbaren lassen.




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